Zur tekom-Jahrestagung 2014 stellten wir eine Reihe von Thesen auf, die das Ende der Technischen Redaktion, wie wir sie kennen, prophezeien. Wir beleuchten Auswege, wie wir durch eine Neuausrichtung des Berufsbilds aber zuversichtlich sagen können: Es gibt sie doch – eine Zukunft für Technische Redakteure. Hier unser Tagungsbandbeitrag, erweitert um einige Elemente aus den Vortragsfolien.
von Frank Ully und Martin Häberle
Bild: Richard
Es war einmal ein Ackergaul. Jeden Tag ging er aufs Feld zur Arbeit und kam erst spät am Abend erschöpft zurück. Aber er war zufrieden, denn seine harte Arbeit trug Früchte und der Bauer war zufrieden.
Eines Tages hörte er aus der Ferne ein Knattern und Rauchen, und bald konnt er sehen, dass es von einem Stahlungetüm kam. Obenauf saß ein Bauer, und er hatte kein Pferd dabei …
Mit der Zeit sah er immer häufiger diese Knatterdingern, und er bekam es mit der Angst zu tun: Sind die nicht gefährlich? Und dann kam der Tag, als der Bauer morgens sagte, das Pferd könne heute im Stall bleiben, und am darauffolgenden Tag wieder. Nach einigen Tagen wurde dem Ackergaul klar, er würde nie wieder einen Pflug ziehen.
Der Ackergaul war traurig. Keiner brauchte ihn. Er hatte gedacht, er sei unersetzbar. Dabei war er doch so ein stolzes Tier, fleißig und treu, brav und zuverlässig, er hatte doch alles getan, was man von ihm verlangt hatte? Was würde bloß aus ihm werden?
Diese kleine Parabel könnte hier zu Ende sein, aber sie geht noch weiter: Der Bauer hatte eine Tochter, und sie ritt das Pferd. Und sie liebte es so sehr, dass schon wenige Jahre später aus dem Bauernhof ein Reiterhof mit vielen Pferden wurde. Der alte Ackergaul war mittendrin. Er war glücklich.
Hintergrund: Laut Hochrechnungen u.a. des Statistischen Bundesamtes war in den 1970er Jahren die Pferdepopulation in Deutschland am niedrigsten, dann setzte ein Boom der Freizeitpferde ein. Heute leben in Deutschland wieder rund 1,2 Millionen Pferde und Ponys. Damit hat sich die Pferdepopulation in den letzten 40 Jahren vervierfacht.
Krisen können also auch Chancen sein.
Digitalisierung und Vernetzung über das Internet sind die größten gesellschaftlichen Umwälzungen seit der industriellen Revolution. Damals ersetzten Dampfmaschinen und Fließbänder unzählige Arbeiter – dennoch ging die Arbeit nicht aus, sie verlagerte sich nur in anspruchsvollere Berufe. Heute umtost uns erneut der Wandel der Berufswelt: Computer und Algorithmen helfen uns nicht nur bei der täglichen Wissensarbeit – sie machen viele von uns nach und nach überflüssig.
Vorstellung der Quellen
Dieser Beitrag basiert auf Erkenntnissen der MIT-Arbeitsforscher Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee, die in ihrem Anfang 2014 veröffentlichten Buch “The Second Machine Age” die digitale Revolution analysieren und eine Umwälzung der Berufslandschaft vorhersagen. Ende 2013 untersuchten zudem zwei Oxford-Wissenschaftler in ihrer Studie “The Future of Employment” ausgewählte Berufe darauf, wie wahrscheinlich sie weiter automatisiert werden.
Zusätzliche Quellen sind publizierte Überlegungen zu Arbeitswelt und Wissensarbeitern der Zukunft, darunter Aufsätze von Gunter Dueck, dem ehemaligen CTO von IBM Deutschland. Schließlich stellen wir ausgewählte Zukunftsszenarien vor, die verschiedene TR-Experten im tekom-Schriften-Band 16 für das Jahr 2041 entwarfen.
These 1
Das Dilemma der Technischen Redakteure beginnt mit dem missverständlichen Namen, endet aber nicht dort.
Dass Technische Redaktion ein erklärungsbedürftiges Metier ist, scheint zunächst kein Problem; zum Erklären sind Technische Redakteure schließlich da. Oft ist es schwierig, den Mehrwert ihrer Tätigkeit zu benennen, der irgendwo zwischen “haftungsrechtlich absichern” und “Benutzerunfreundlichkeit des nicht selbsterklärenden Produkts kompensieren” zu liegen scheint. Ist der Technische Redakteur nur ein Übergangsphänomen – zwischen dem sprachgewandten Ingenieur von früher und dem Nutzer von heute und morgen, der ohnehin alles googelt? Dessen Erwartungen und Medienkonsum ändern sich jedenfalls: weg vom nur widerwillig konsultierten Handbuch, hin zu leicht konsumierbaren Videoanleitungen. Wussten Sie, dass YouTube in Deutschland die zweithäufigst genutzte Suchmaschine ist?
These 2
XML-basierte Redaktionssysteme sind teure, überkomplexe Informationssilos geworden.
Zweifellos gab es in den 30 Jahren seit Entstehen des Berufs technologisch-methodische Entwicklungen, die die Produktivität des Technischen Redakteurs vervielfacht haben. Redaktionswerkzeuge behielten über die Jahre ihre Prinzipien wie Modularisierung, Strukturierung und Wiederverwendung. In der Anwendung durch Technische Redakteure enthüllten diese Hilfsmittel auch ihre Schattenseiten – etwa die Fixierung auf bewährte (lies: demnächst überkommene) DTP-Programme wie FrameMaker für das Erfassen medienneutraler Inhalte; oder die ewig gepredigten Vorzüge von XML, die in der Praxis bedeuten: das System kann niemand außer den “Eingeweihten” bedienen. Eine Lösung könnte sein, einen alle Beteiligten einschließenden einfacheren Weg für die Dokumentationserstellung und -bereitstellung zu beschreiten, etwa über eine Wiki-basierte Kollaborationsplattform.
These 3
Wir sind an der Schwelle zum zweiten Maschinenzeitalter: viele als Science Fiction beschriebene Visionen werden realisierbar – durch diese Fortschritte werden zahlreiche geistige (Routine-)Tätigkeiten immer mehr automatisierbar.
Vor ein paar Jahren schien die Vision vom selbstfahrenden Auto noch mehrere Jahrzehnte in einer Zukunft von Filmen wie “Minority Report” zu liegen – inzwischen haben Googles autonome Fahrzeuge mehr als 1 Million Kilometer unfallfrei zurückgelegt. Waren frühe Spracherkennungsprogramme noch Anlass für Witze auf Partys von Computernerds, sind sie in Form von Sprachassistenten wie Apples Siri, Microsofts Cortana oder Google Now auf Millionen Smartphones angelangt. Auch die Science-Fiction-Idee von voll- und teilautonomen Robotern nähert sich der Verwirklichung; Ende 2013 gelang Maschinen mehrerer Forscherteams in der DARPA Robotics Challenge, was bis vor Kurzem für Roboter Zukunftsmusik zu sein schien: Geröll von einem Eingang wegzuräumen, eine Tür zu öffnen, auf eine Leiter zu klettern, einen Löschschlauch anzuschließen und ein Wasserventil aufzudrehen.
Callcenter-Mitarbeiter, Anwaltsgehilfen, Steuerberater: Diese geistig anspruchsvolleren Angestelltenjobs sind schon heute von Telefonrobotern, Volltextsuchprogrammen und ausgeklügelter Steuersoftware bedroht. Selbst Aufgaben klassischer Akademikerberufe wie des Mediziners oder Pharmazeuten können Algorithmen bald genauso gut und besser erfüllen: IBMs Computerprogramm Watson, das in den USA 2011 medienwirksam Quiz-Champions aus Fleisch und Blut bei “Jeopardy” vernichtend schlug, ist eine fortgeschrittene semantische Suchmaschine, die derzeit dazu verwendet wird, vorherzusagen, welche Arzneistoffe bestimmte Krankheiten heilen könnten.
Bei Bankern ist die Abhängigkeit des angestellten Menschen von der Maschine als “Bildschirmrückseitenberatung” bereits heute zu besichtigen: Die Entscheidung über einen Kredit trifft nicht mehr eine Person, sondern ein Programm; und es stellt auch ein passendes Anlage-Portfolio zusammen. Sogar der Job von Schiedsrichtern ist nach Berichten des Wirtschaftsmagazins “Brand eins” nicht vor Automatisierung und damit Rationalisierung gefeit.
These 4
Von Menschen geschrieben werden in Zukunft nur noch kreative Marketingtexte und wenige hochkomplexe deskriptive Texte.
Schreibroboter sind keine Science Fiction mehr, sie verfassen heute journalistische Nischen-Texte: Sport- und Börsennachrichten, Wettervorhersagen oder Erdbebenmeldungen. Von Computerlinguisten entwickelte Algorithmen können einfache Meldungen über Ereignisse schreiben, die auf Zahlen und Datenmengen basieren, die ein menschlicher Redakteur oft nicht verarbeiten könnte. Auf dem Feld des so genannten Roboterjournalismus tummeln sich von Risikokapital gestützte US-Firmen wie Narrative Science und Automated Insights; mit aexea ist auch ein deutsches Start-up dabei. Diese Unternehmen bieten bereits Business-Anwendungen wie die automatisierte Verschriftlichung von Vertriebs- und Marketing-Statistiken an. Die Sprachtechnologie hat in kurzer Zeit einen Punkt erreicht, von dem der Einsatz in einfachen Textsorten der Technischen Redaktion nicht mehr weit entfernt ist.
These 5
Fast alle Übersetzungen von Gebrauchs- und auch vielen Marketingtexten werden zukünftig durch maschinelle Übersetzung mit minimalem menschlichen Eingriff erstellt.
Der Maschinellen Übersetzung (MÜ) gelangen in den letzten Jahren durch Abwendung vom regelbasierten Ansatz hin zu statistischen oder hybriden Verfahren bemerkenswerte Fortschritte. “Big Data”-Experten im Verarbeiten von großen Datenmengen mit intelligenten Algorithmen und gewaltiger Rechenkapazität wie Google sind auch hier Vorreiter – und Inspiration für MÜ-Start-ups, die zuweilen von anderen Technikriesen wie Facebook kurz nach Gründung aufgekauft werden.
Translate Server Error #GoogleTranslateErrors pic.twitter.com/qW2IUop8z0
— Rasmus Haslund (@haslund) December 19, 2013
Noch sind die automatischen Übersetzungen von Google Translate gelegentlich Anlass für Spott; unternehmensintern existiert aber bereits eine viel treffsicherer übersetzende Produktvariante. Bei Geschäftskunden ist die MÜ bereits angekommen: Der Übersetzungsdienstleister Lionbridge bietet mit GeoFluent eine maschinelle Echtzeit-Übersetzung aus der Cloud an.
These 6
Der festangestellte Technische Redakteur (m/w) im Unternehmen stirbt aus.
Ein Blick auf den Stellenmarkt für Technische Redakteure zeigt, dass mittlerweile mehr als jedes zweite Gesuch von einem Dokumentationsdienstleister stammt, woraus sich unter anderem schließen lässt:
- Der klassische Technische Redakteur wird immer mehr zu einer Art gehobenem Leiharbeiter, der bei Bedarf gerufen und hinterher abbestellt werden kann.
- Die vom Einzelnen erbrachte Leistung wird austauschbar, weil Schnittstellen und Prozesse zwischen Unternehmen und Dienstleister immer umfassender standardisiert werden.
- Das unternehmerische Risiko trägt nun der Redaktions-Dienstleister, der dies entsprechend in seine Kalkulation einpreist.
- Ziel der Kundenunternehmen ist eine Effizienzoptimierung, um das Dienstleistungskontingent mittelfristig zu senken oder zu verbilligen.
- Durch die damit verbundene Kostenersparnis bei gleichzeitig akzeptabler Qualität steigt die Nachfrage nach extern eingekauften Redaktions-Dienstleistungen. Der Bedarf für festangestellte Technische Redakteure nimmt ab.
- Dies hat gravierende Auswirkungen auf Löhne und sonstige Arbeitsbedingungen der (festangestellten wie ausgeliehenen) Technischen Redakteure.
Die Folge: Was sich (noch) nicht automatisieren lässt, soll gemäß dem “Discount”-Prinzip möglichst billig als Dienstleistung erbracht werden. Die Preis- und damit Wertschätzungsspirale dreht sich weiter nach unten.
These 7
Die klassische Technische Redaktion ist mittelfristig ein aussterbender Beruf, weil rationalisierbar.
Laut der o.g. Oxford-Studie kann fast die Hälfte aller aktuellen Arbeitsplätze in den kommenden 10 bis 20 Jahren automatisiert werden, darunter der Handbuch-schreibende Technische Redakteur – zunehmende Standardisierung der Arbeitsprozesse, Automatisierung durch Roboter (Hardware) und Algorithmen (Software) helfen dabei. Soziologen und Ökonomen wenden natürlich ein, dass nur dann automatisiert wird, wenn es sich betriebswirtschaftlich rechnet – was aber mit wachsender Standardisierung von Hard- und Software-Komponenten zunehmend der Fall ist.
Bild: James Walter Chapman-Taylor
Wollen wir lieber weiter Steine klopfen (was Maschinen viel schneller und präziser können) oder wollen wir stattdessen nicht viel lieber Bildhauer sein? – in Anlehnung an die Geschichte von den drei Steinmetzen, die gefragt wurden, was sie da tun. Der erste sagte “Ich behaue Steine.”, der zweite Steinmetz sagte “Ich ernähre meine Familie.” Wohingegen der dritte sagte: “Ich baue eine Kathedrale!”.
These 8
Der Technische Redakteur ist der ideale Wissensarbeiter der Gegenwart und Zukunft.
Technische Redakteure sind ihre Querschnittsrolle in Unternehmensstrukturen bereits gewohnt. Hinzu kommen die vielgerühmten “Soft Skills”, die ein Technischer Redakteur besitzen muss, um mit verschiedensten Kollegen zusammenzuarbeiten – etwa Kommunikationsfähigkeit, Krisen- und Projektmanagement. Darüber hinaus sind Technische Redakteure häufig auch in angrenzenden Fachgebieten wie User Experience und Usability Testing bewandert und alles andere als Fachidioten.
Auswege aus dem Dilemma
1. Zum Ingenieur für “besondere Angelegenheiten” weiterentwickeln
Technische Redakteure können noch mehr zum Anwalt der Nutzer werden und intuitiv nutzbare Produkte fordern und an deren Entwicklung mitwirken. Customer und User Experience, Qualitätsmanagement und Querdenken sind dabei nicht bloß Schlagworte, sondern Themenfelder für Weiterbildung und -entwicklung. Egal was oder wie: Es geht darum, sich in ein zunächst fachfremdes Thema hineinzudenken und Experte dafür zu werden.
2. Zum Content-Strategen werden
Für die analytisch Begabteren liegt nahe, strategische Themen anzugehen und sich weiterzubilden zum Experten für Content-Strategien – einem der größten Schlagwörter der letzten Tagungsjahre. Dabei gilt es – ob als freier Berater oder im Unternehmen – Synergien und Strategien beim Entwickeln und Bereitstellen von Inhalten zu schaffen und multimodale Konzepte und Plattformen zu konzipieren.
3. Neue Impulse im Marketing geben
Für kommunikationsaffinere Technische Redakteure liegt die Zukunft im Content Marketing, sofern sie den Mehrwert ihrer Produkte vermitteln können und sich nicht vor neuen Kanälen und Formaten fürchten. Für sie besonders wichtig: gleichermaßen verkaufen und zuhören können im Dialog mit Kunden und internen Entscheidungsträgern. Technische Redakteur können so helfen, die Grenzen zwischen Marketing und Dokumentation zu verwischen; denn die Kunden von morgen werden weder blumig-inhaltsleere klassische Vertriebsprosa noch Bleiwüsten in Handbüchern akzeptieren.
4. Automatisierung vorantreiben
Für technisch ambitionierte Technische Redakteure gilt es, beim Ausbau der Automatisierung mitzuwirken: beisteuern von fachlicher Expertise, implizite Regeln explizieren, Prozesse modellieren, Schnittstellen definieren; Sprachkontrolle/linguistische Muster entwickeln, Maschinelle Übersetzung vorantreiben – wissend, dass sie damit ehemaligen Kollegen die Arbeit “wegnehmen”.
5. Abwarten und Tee trinken
Für manche wird es ganz einfach sein: Sie ignorieren alle Zeichen des Wandels; tippen wie bisher in FrameMaker Schrittanleitungen herunter, formulieren Entwicklertexte um und bringen sie ins Layout, erzeugen aus allem ein vermutlich nie abgerufenes PDF – in der Gewissheit: die Rente ist nicht mehr fern.
Ausblick und Fazit
Hopfen und Malz sind noch nicht verloren, oder um im Berufsbild zu bleiben: das letzte Wort wurde noch nicht geschrieben. Die geschilderten Zeichen des Wandels sind sicht- und absehbar.
Bild: Daniel StockmanJeder Technische Redakteur sollte sich fragen: Was ist mein persönlicher Mehrwert; wie stelle ich mir meine Tätigkeit in 10, wie in 20 Jahren vor; welche Voraussetzungen müssen dafür geschaffen werden – technologisch wie organisatorisch, in meiner Weiterbildung und meiner Motivation?
Das Ergebnis dieser Erwägungen wird wohl nicht mehr viel mit dem zu tun haben, was wir gestern und heute “Technischer Redakteur” nannten. Aber ist das wirklich schlimm?
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