Vorträge sind total oldschool, das habe ich auf der re:publica 2015 in Berlin gelernt. Die digitale Avantgarde präsentierte dort Konzepte zur Arbeit 2.0 und diskutierte weit über das Web 2.0 hinaus zu Netzthemen. Ganz nebenbei wurde dabei auch noch der Vortrag neu erfunden. Warum zukünftig wohl bei jeder Konferenz, die etwas auf sich hält, nur noch Kopfhörer ausgegeben werden – und warum uns das zu Zombies macht.
Die re:publica ist in vielerlei Hinsicht wegweisend und damit der Prototyp für die Konferenz 2.0. Damit meine ich noch nicht einmal das diesjährige inoffizielle Motto “overannounced & underdelivered”. Vielmehr soll es hier um die Technik gehen. Denn die Veranstalter setzen vermehrt auf Kopfhörer, um Vorträge wenn schon nicht räumlich, dann doch wenigstens akustisch voneinander zu trennen (und erreichen dabei viel mehr als nur das).
Was in der Steinzeit am Lagerfeuer noch ohne jedes Hilfsmittel funktioniert hat, entwickelt sich wie jede Kulturtechnik laufend weiter. Heutzutage genügt es nicht mehr, wenn vorne jemand steht und (hoffentlich) etwas zu sagen hat, wenn das Publikum gebannt zuhört und am Schluss eifrig (hinter)fragt.
Vielmehr finden auf Bühnen (die heute “Stages” heißen) statt Vorträgen nun “Sessions” oder “Talks” statt. Dabei bleibt es selbstverständlich nicht beim sprachlichen Wandel, es darf auch nicht ohne zusätzliche Technik gehen. Denn Rednerpult, Mikrofon und Projektionsfläche waren bloß der Anfang, genauso wie die Twitterwall wohl übrigens bloß ein Übergangsfossil der frühen 2010er Jahre war.
Das Prinzip Kopfhörerbühne
Auf der re:publica durfte ich wieder eine Menge lernen, diesmal u.a. das Wort “Kopfhörerbühne”, oder auf republikanisch auch “Silent Stage”. Das bedeutet, dort sprechen die Vortragenden zwar wie gewohnt in ein Mikrofon, der Ton wird jedoch nicht über Lautsprecher in der Halle verstärkt, sondern geht dem Publikum via Kopfhörer direkt auf die Ohren. Das ist nur konsequent, denn die Stages 8, 9, 10 und 11 wurden in einer langgezogenen ehemaligen Güterbahnhofshalle baulich nicht getrennt hintereinander angeordnet – angeblich aus “ökologischen Gründen”.
Aus der Not, die parallel stattfindenden Vorträge irgendwie akustisch separieren zu müssen, wurde von den re:publica-Organisatoren sogleich eine Tugend gemacht und die Geräuschentwicklung über Kopfhörer minimiert. Das ist doch wahnsinnig praktisch, oder nicht?
Bildquelle: alternativlos
Vier Gründe, warum Kopfhörerbühnen doof sind
Ob Kopfhörerbühnen praktisch sind, muss jeder für sich selbst beantworten. Für den Veranstalter mag es eine pragmatische Option sein. Für mich als Konferenzteilnehmer wurden sie aber direkt nach dem ersten (und direkt negativen) Erlebnis schnell zu einem K.o.-Kriterium. Wenn ein Vortrag in (Kopfhörer-)Stage 8–11 stattfand, entschied ich mich nach Möglichkeit dagegen. Das hat seine Gründe.
Grund 1: Ohne Kopfhörer kein Vortrag
Der titelgebende Tweet von @DynamiteCakes gibt nicht nur die Enttäuschung und Verärgerung von Teilen des Publikums wider. Er zeigt auch, dass Kopfhörerbühnen ein astreines (Zugangs-)Kontrollinstrument sind und die Gemeinschaft noch mehr als nötig zwischen “dabei” und “draußen” spalten:
Wer keinen Kopfhörer hat, muss draußen bleiben #stage8 #rp15 #storytelling
— Franziska Robertz (@DynamiteCakes) May 5, 2015
Grund 2: Leih-Kopfhörer sind unkomfortabel und unhygienisch
Grundsätzlich ist es sicherlich Gewohnheitssache, ob man Kopfhörer trägt und wie lange. Typischerweise nutzt man dann aber Kopfhörer, die einem passen. Anders auf der re:publica und ihren mäßig bequemen Over-Ear-Leihkopfhörern. Besonders für mich als Brillenträger fühlten sich diese schon nach wenigen Minuten unangenehm an.
Außerdem fragt sich re:publica-Teilnehmer @hannesleitlein zu recht, wie hygienisch solche dauernd herumgereichten Kopfhörer (die oft noch vom vorherigen Nutzer vorgewärmt waren) eigentlich sein können:
Werden diese Kopfhörer eigentlich desinfiziert? #rp15
— Hannes Leitlein (@hannesleitlein) May 5, 2015
Grund 3: Mit Kopfhörern zu lauschen ist anstrengend und frustrierend
Kopfhörer sind anfällig. Wenn beispielsweise der Kopfhörer-Akku langsam zur Neige geht oder man ein halb-defektes Gerät erwischt hat, mischen sich vermehrt Störgeräusche hinein. Oder wenn der Lautstärkepegel stark schwankt und man ständig nachregeln muss. So empfinden es viele als anstrengend, dem Gesagten über die Kopfhörer zu folgen. Das sieht auch @rasibo so:
#rp15-Sessions per Kopfhörer konzentriert zu verfolgen, geht auch nicht länger als 1 Stunde. #Brummschädel
— Ralf (@rasibo) May 5, 2015
In Kombination mit weiteren nicht optimalen Rahmenbedingungen (wie der störenden Geräuschkulisse von benachbarten Stages) wird die Konferenz nicht nur für @rwolupo zu einem Erlebnis der frustrierenden Art:
https://twitter.com/rwolupo/status/595618179373727746
Grund 4: Kopfhörerbühnen machen uns alle zu Gehörlosen
Einen Vorteil könnte man Kopfhörerbühnen dann aber doch noch zugestehen. Weil sie uns alle quasi zu Schwerhörigen bzw. Gehörlosen machen, können wir uns einen Eindruck verschaffen, wie schwierig es für Betroffene sein muss, ohne akustische Hilfsmittel in neuen Umgebungen zurecht zu kommen:
"Kopfhörer? Brauch ich nicht." – "Doch, brauchst du! Das ist eine Kopfhörerbühne!" Oops, direkt mal als Neuling geoutet. #rp15
— Jenni (▽ ் ⚇ ்▽)♡ Kosche (@KuneCoco) May 5, 2015
Live-Podcast statt sozialem Ereignis
Einen Teilnehmer hörte ich irgendwann einmal voller Sarkasmus nach einem solchen Vortrag sagen: “Kopfhörer machen autistisch”. Seine Wortwahl mag zwar unglücklich sein, aber er umriss damit das Problem recht präzise. Denn auf Kopfhörerbühnen hören sich die Teilnehmenden nicht mehr gegenseitig, mit für jeden wahrnehmbaren Folgen.
Zum einen hören die Teilnehmer auf, miteinander zu tuscheln, sich (offline) auszutauschen oder womöglich sogar miteinander zu lachen. Nein, ab jetzt lacht jeder für sich. Zum anderen gehören Wortmeldungen aller Art praktisch der Vergangenheit an, denn diese würde ohnehin niemand hören können.
Durch die Kopfhörer werden aber nicht nur die Zuhörer voneinander entkoppelt, sondern auch die Zuhörer von den Referenten – also im Prinzip jeder von jedem, wobei das Miteinander völlig verloren geht. Nur konsequent ist es daher, wenn sich die Teilnehmer ausklinken, ohne den Raum physikalisch verlassen zu müssen. Wenn etwa der aktuelle Vortrag gerade nicht so spannend ist, dann lässt sich – Kippschalter sei Dank – einfach auf einen anderen Kopfhörerkanal und damit zu einem parallel stattfindenden Vortrag wechseln, wie @JanEggers empfiehlt:
Den #rp15 Kopfhörer auf einen Kanal umgeschaltet, wo einer was über E-Mail – Analyse und Teams erzählt. Viel spannender als #OutofOffice .
— Jan Eggers (@JanEggers) May 5, 2015
“Das hier ist partizipativ!” – oder nicht?
Die Teilnehmer werden mit Kopfhörern zu angestrengten Zuhörern; statt sozial miteinander zu interagieren, wird nur noch passiv konsumiert.
Dazu ein Beispiel: Das vom re:publica-Sponsor Microsoft initiierte Spiel Stadt-Land-FlussWork wollte während des einen oder anderen Vortrags einfach nicht so richtig funktionieren. Die Ursache: das Publikum hat die via Kopfhörer übermittelten Spielanleitung akustisch nicht verstanden. Die Folge: eine Vielzahl der Leute im Publikum machten nicht mit, geschweige denn präsentierten sie eine Lösung. Und das, obwohl es sogar vergleichweise Brauchbares zu gewinnen gab. Vielen (einschließlich mir) war die Interaktion über den Kopfhörer hinweg schlichtweg zu mühsam …
Die Zuhörerschaft wird bräsig, sobald man ihre Hirne mit Kopfhörern einklemmt. Mangels Wortmeldungen fühlte sich eine Referentin nach ihrem Vortrag bezeichnenderweise dazu genötigt, auf den interaktiven Charakter des Frage/Antwort-Blocks hinzuweisen: “Das hier ist partizipativ!”
Update vom 30.5.2015: In Folge 436 des WRINT-Podcasts schildert Alexandra Tobor, wie es sich aus Sicht einer “Speakerin” anfühlt, bei der re:publica auf einer Silent Stage zu stehen und gemeinsam mit vier weiteren Referentinnen einen Vortrag halten zu wollen. Zu hören ist ihr Dialog mit Holger Klein gleich zu Anfang der Podcast-Episode (ca. von Minute 1:50 bis Minute 10:15), hier nur auszugsweise:
Normalerweise hört man die Menschen lachen, verächtlich schnauben oder so, eine Resonanz halt (…) Nicht auf dieser Bühne, weil ich die Leute weder gesehen noch gehört habe. Und ich kam mir vor, ganz komisch, wie im Knast [bei einer Gegenüberstellung; Anm. MH]. Alle können dich sehen (…), aber du kannst nichts sehen. Das war ein furchtbares Gefühl. (…) Das [mit den Kopfhörern] war auch echt scheiße.
Im Zeichen des Kopfhörers
Wie auch beim Motto der Konferenz, gab es auch beim Logo der re:publica 2015 eine offizielle und eine (tatsächlich gar nicht mal so) inoffizielle Variante. Das offizielle Emblem zeigt ein Megafon, auch wenn sich mir hier der Zusammenhang mit dem Motto “Finding Europe” nicht erschließt. Doch es geht vermutlich ums Gehörtwerden, um Lärm, der idealerweise nicht um Nichts gemacht wird.
Die inoffizielle – und wie ich finde passendere – Logo-Variante war jedoch fast ebenso allgegegenwärtig, zumindest in Nähe der Stages 8–11: der Kopfhörer als Zeichen der Entkopplung, des passiven Konsums und des Ganz-für-sich-Seins.
Die Konferenz 3.0 wird voll-entkoppelt sein
Weil Kopfhörerbühnen für die Veranstalter gewaltige Vorteile bietet (und von vielen Teilnehmenden der Einsatz von Kopfhörern nicht groß hinterfragt wird), werden die Konferenzen der Zukunft womöglich nur noch mit Kopfhörern stattfinden.
Die Organisatoren erhalten damit die volle Kontrolle, wie viele zuhören dürfen, indem einfach die Zahl der Kopfhörer bei Bedarf eingeschränkt wird. Überfüllte Säle gehören somit der Vergangenheit an und die Leute verlassen sogar freiwillig den Raum, ohne endlose Durchsagen zu machen oder gar Security-Einsätze anordnen zu müssen.
Und noch besser: missliebige Personen erhalten einfach keine Kopfhörer mehr, basta! Würde dann noch eine “Schutzgebühr” pro Kopfhörer erhoben, ließen sich außerdem noch prima die weniger Zahlungsfähigen aussortieren …
Die Kopfhörerbühne konsequent weitergedacht hieße aber auch, dass vorne auf der Bühne niemand mehr zu stehen braucht, sogar noch nicht einmal mehr physisch anwesend sein muss. Und dann entfiele auch der Zwang, dass die Konferenzbeiträge “live” gesprochen werden. Das hätte schließlich den Vorteil, dass sich die Zuhörerschaft bequemerweise auch nicht mehr zur selben Zeit am selben Ort einzufinden braucht, sondern stattdessen nur noch bei Gelegenheit bei Youtube vorbeischauen muss.
Ich weiß, ich übertreibe. Aber ihr seht schon: wir sind auf dem besten Weg, ein herausragendes soziales Ereignis wie eine Konferenz zeitlich und räumlich komplett von den Teilnehmern zu entkoppeln.
Was E-Learning-Einheiten schon volldigital vormachen, indem vielerorts (auch im akademischen Umfeld) bereits Präsenzveranstaltungen ersetzt werden, das wird wohl auch vor Konferenzbeiträgen keinen Halt machen. Und schon bald hätten wir den Salat: die Konferenzen würden sich schließlich selbst abschaffen – eine Dystopie, wie ich finde.
Blick nach vorn
Wir können jetzt diskutieren, ob Kopfhörerbühnen bloß eine Notlösung sind oder nicht, genauso wie Mikrofone und Lautsprecher auch nur pragmatische Mittel sind, um von vielen Menschen am gleichen Ort gehört zu werden. Und es ließe sich streiten, ob die re:publica nicht bloß zu groß, glatt und unpersönlich geworden ist und ob ein ehemaliger Postumschlagbahnhof vielleicht nicht optimal für Konferenzen dieser Art geeignet ist. Wir könnten aber auch beginnen, organisatorische Probleme nicht länger ausschließlich technisch lösen zu wollen und dabei mit dem Hinterteil funktionierende Dinge einzureißen und neue soziale Probleme zu schaffen.
Vielmehr geht es doch darum, Technologie gezielt einzusetzen, um soziale Interaktion zu ermöglichen. Bei meiner ersten re:publica im Jahr 2012 war ich zum Beispiel begeistert, wie genial Twitter die Konferenz um eine Metaebene bereicherte. Über den Hashtag wurde und wird nicht nur vernetzt, informiert und auf gleichermaßen hohem und niedrigem Niveau unterhalten, es werden auch Botschaften verstärkt, Diskussionen anregt, und es wurde herrlich herumgeblödelt. Selbst örtlich nicht Anwesende können mittendrin sein und das vielgerühmte re:publica-Feeling miterleben. Das ist für mich Technologie, die Austausch ermöglicht und das Miteinander bereichert, und nicht ausschaltet wie die Kopfhörersache.
Wenn wir all diese Diskussionen geführt haben (gerne unterhalb dieses Artikels im Kommentarbereich), und Lösungen für die Zukunft der re:publica und der Veranstaltungsform Konferenz an sich gefunden wurden, dann freue ich mich auch wie Bolle, in Zukunft wieder an dieser Art sozialem Ereignis (und der re:publica) teilzunehmen.
TL;DR: Auf Konferenzen Kopfhörer tragen zu müssen nervt nicht nur, damit wird auch die Interaktion zwischen allen Beteiligten gehemmt und Kontroversen im Keim erstickt. Wenn das Schule macht, würden Konferenzteilnehmer zu Zombies, die sich bloß noch irgendwie berieseln lassen. Die Konferenz als soziales Ereignis stirbt. Lassen wir’s nicht so weit kommen!